Auf der Zielgeraden
Es ist April. Die Osterzeit vorbei. Ich kann es noch gar nicht fassen. Im Oktober ist Kolloquium. Mitte Oktober, um genau zu sein. Dann sind wir, meine Kolleg*innen und ich, offiziell systemische Berater*innen. Manche von uns, sofern sie denn, das Zertifikat beantragt haben und die vorgeschriebenen Beratungsstunden nachweisen können mit dem Zusatz (DGSF). Auch ich strebe die Zertifizierung an. Kleiner Werbeblock: Falls Sie Interesse an einer Beratung haben, melden Sie sich gerne bei mir.
Ich kann mich noch gut an den ersten Tag der Weiterbildung erinnern. Im November 2021. Wir hatten gerade die Tante meines Mannes beerdigt. Wir waren noch ein wenig geschockt von ihrem plötzlichen Tod und gleichzeitig mischte sich in die Trauer eine Vorfreude auf die Weiterbildung. Manchmal zeigt sich das Leben von der komischen Seite.
Am ersten Tag kam ich überpünktlich. Ich hatte fast 20 Minuten Zeit. Ich war so aufgeregt, dass ich erst gar nicht merkte, dass ich vom Tiefgaragenausgang aus, in die falsche Richtung lief. Als ich es merkte und die Richtung korrigierte, hätte ich noch pünktlich sein können, doch mein Hirn war da schon im Stressmodus und ich lief am Tagungshaus vorbei. Da wir noch in Pandemiezeiten anfingen, hatten die Veranstalter kuzerhand den Tagungsort gewechselt, damit wir mit gutem Abstand voneinander sitzen konnten. Das eigentliche Seminarhaus, in dem die Weiterbildung sonst stattfindet und im Jahr darauf dann auch stattfand, kann man nicht verfehlen.
Mein Hirn im Streßmodus und nicht mehr denkfähig brauchte Beruhigung. Ich wäre sonst noch fünfmal an diesem unscheinbaren Ort vorbei gelaufen. Deshalb sagte ich mir dann: Stehenbleiben. Durchatmen. Die Straße noch mal zurück und hinschauen. Das half dann auch.
Ich kam gute 15 Minuten zu spät. Mitten in die Vorstellungsrunde hinein. Ein Platz ganz am Ende fast neben dem Seminarlleiter war noch frei. Ich wurde freundlich begrüßt und durfte erstmal ankommen und zuhören. Am Ende der Vorstellungsrunde war ich dann dran. Dieser Platz bedingte auch, dass man die Erste in der Runde sein kann. Es war totzdem ein guter Platz. Hatte ich doch sämtliche Ausgänge im Blick. Und nachdem ich schon mal aufgefallen war, hatte ich auch das schon hinter mir. Was bitte ist peinlicher als 15 Minuten zu spät zu kommen und mitten durch den Raum zu müssen, so dass wirklich jeder weiß, wer man am Ende ist, weil man „die ist, die zu spät kam“.
Ich lernte 20 neue Menschen aus unterschiedlichsten sozialen Berufen kennen. Wir alle haben diese Weiterbildung aus unterschiedlichsten Gründen begonnen, doch wir alle haben eine Ziel, wir wollen Systemische Berater*innen werden.
Damals im November musste ich über viele meine Schatten springen. Mich fremden Menschen öffnen, mich zeigen, in Rollen schlüpfen. So gar nicht mein Ding. Es war eine sehr interessante Woche. Am Ende der Woche wusste ich: „Ja, das war die richtige Entscheidung.“ Jetzt nach über eineinhalb Jahren, habe ich viel über mich gelernt und schlüpfe sogar in meinen Workshops in verschiedene Rollen. Vorher undenkbar.
Jetzt im Juni 2023 findet die letzte Woche unserer Weiterbildung statt. Ich kann es noch gar nicht glauben, dass dann alles vorbei sein wird und wir uns nur noch zur Peergroup und unseren Supervisionen treffen werden. Und natürlich zum Kolloquium im Oktober. Zum Abschlussfest. Dazwischen steht noch die Hausarbeit, die wir schreiben müssen. Im Oktober 2023 bin ich dann systemische Beraterin.
Veränderungen – Weiterentwicklung
Als wir mit der Weiterbildungen begannen, äußerte ich die Sorge, dass die Veränderungen, die diese Weiterbildung in mir bewirken wird, auch Auswirkungen auf mein unmittelbares System haben wird, und ich nicht weiß, was diese mit mir und meiner Beziehung zu meinem Partner, meiner Familie machen wird.
Die Weiterbildung hat mich verändert. Ich habe mich weiterentwickelt. Habe meine Beraterpersönlichkeit weiter ausgebaut. Viele meiner Kompetenzen, meiner Fähigkeiten, die ich bereits mitbrachte und unter Verschluss hielt, durften endlich raus, sich entfalten und entwickeln. Ich lernte viel über mich und mein Familiensystem, ich lernte viel neues Wissen dazu, frischte Altes auf.
Jetzt, da ich mich auf der Zielgeraden befinde, den Gipfel schon fast sehen kann, bin ich dankbar dafür, dass ich trotz aller Widerstände in mir, diese Weiterbildung gemacht habe und meinen Weg gegangen bin. 20 Jahre habe ich jetzt dafür gebraucht, den ersten Schritt zu gehen. Jetzt, da ich ihn gegangen bin, bin ich dankbar und spüre viel Demut in mir. Denn ich weiß, dass ich den Weg weitergehen werde. Ich weiß, dass es mein Weg ist. Ich weiß nur noch nicht, was ich zuerst machen möchte, die Supervisorenausbildung oder die Ausbildung zur Paarberaterin. Denn ich habe, neben all den Möglichkeiten, die uns die Beratung biete, auch zwei Themenbereiche entdeckt, die mich ganz besonders ansprechen: Trennung und Paarberatung.
Die Veränderungen, meine Weiterentwicklung hat nicht nur meine Beziehungen verändert. Zu meiner Familie, zu meinem Mann. Auch das macht mich demütig und dankbar. Sie hat mich auch beruflich verändert. Ich bin klarer in meiner Haltung, klarer mit mir selbst. Ruhiger. Mehr in mir ruhend. – Natürlich gibt es noch immer Situationen, die mich aus der Ruhe bringen und mich und mein Hirn in den Stressmodus versetzen, wo dann das Reptiliengehirn übernimmt. Denken Fehlanzeige. – Ich merke, diese Ruhe und Klarheit, in meinen Workshops, die ich gebe. Merke es in meiner Haltung, die sich verändert und verfeinert hat. Merke es daran, dass ich viel klarer Position beziehe.
Abschied
Auf der eine Seite freue ich mich auf das Ende der Weiterbildung. Auf der anderen Seite spüre ich den Abschiedsschmerz in mir. Weiß, dass wir uns, meine Kolleg*innen und ich, in dieser Konstellation nicht mehr sehen werden. Im Juni werden wir das letzte Mal miteinander eine Woche Weiterbildung verbringen. Wir haben viel voneinander gelernt, haben viele Emotionen voneinander kennengelernt, haben miteinander gelacht und geweint, haben miteinander gescherzt und uns über viel Ernstes unterhalten. Miteinander diskutiert und miteinander alberne Sachen gemacht. Ich werde jeden einzelnen, jede einzelne meiner Kolleg*innen vermissen. Wir werden im Juni eine sehr Gefühlsintensive Woche erleben.
Zwischen Juni und September werden wir alle an unseren Hausarbeiten sitzen. Werden unsere Beratungen reflektieren. Unseren eigene Weiterentwicklung reflektieren und erfahren. Im Oktober sind wir dann Systemische Berater*innen und uns voneinander verabschieden. Ich möchte aber heute schon Danke sagen, Danke für diese wunderbare Zeit mit Euch, für Eure Begleitung, Eure Offenheit, Eure Ehrlichkeit und Wertschätzung. Merci.